Medical Gaslighting: Gesundheitswunsch trifft Unverständnis

Eine Zeichnung zeigt einen Mann im Arztkittel der einer Frau gegenübersteht.
Medical Gaslighting ist, wenn aus medizinischem Fachpersonal plötzlich Überredungskünstler:innen werden.

Die Bedürfnispyramide von Maslow beginnt mit den physiologischen Bedürfnissen, also den Grundbedürfnissen, die für das Überleben unerlässlich sind. In meiner eigenen Pyramide steht meine Gesundheit an erster Stelle, gefolgt von meinem Verständnis für meine Gesundheit. Es dürfte mir als Mann jedoch einfach noch nicht so oft passiert sein, dass mir mein Gesundheitsverständnis abgesprochen wird, wie meinen weiblichen Freund:innen.

Der Begriff "Medical Gaslighting" bezieht sich auf das 'Absprechen', 'Drüberfahren', 'Ignorieren' oder einfach 'Nicht-Hören' von klagenden Patient:innen. Dabei vermittelt ein:e Ärzt:in das Gefühl von mangelndem Verständnis für das persönliche Anliegen, welches oft eine lange, unverstandene Vorgeschichte hat.

Wir haben mit Prof. Dr. Stefan Höfer gesprochen, welcher an der Medizinischen Universität Innsbruck tätig ist. Er forscht dort zum Glücklichsein und bildet die Mediziner:innen von Morgen aus.

Gesundheit als biopsychosoziales Konzept

"Wir versuchen, unseren Medizinstudent:innen zu vermitteln, den Menschen als Ganzes abzuholen. Also im Sinne eines biopsychosozialen Konzepts und nicht ausschließlich als erkrankter Körper oder nur als psychisches Phänomen", stellt Dr. Höfer klar. Er betont, dass das Ziel nicht mehr darin besteht, eine fehlfunktionierende Maschine zu reparieren, sondern ein umfassendes Bild von der gesundheitlichen, sozialen und psychologischen Situation einer Person zu erhalten.

"Wenn ich diese Haltung als Arzt verinnerlichen kann, dass vor mir nicht nur ein Körper sitzt, sondern Menschen mit Problemen, Ängsten und Hemmungen – und, dass es darum geht, die Beschwerden ernst zu nehmen, dann reduziere ich auch die Gefahr für Stereotypen oder Medical Gaslighting."

In einer Studie wurde untersucht, ob Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen im Vergleich zu Männern öfter fehldiagnostiziert werden. Die Ärzt:innen hatten bei weiblichen Patienten mittleren Alters das geringste Vertrauen in die Richtigkeit der Diagnose. Dies galt unabhängig davon, ob es sich um eine Herz-Kreislauf-Erkrankung oder eine andere Erkrankung handelte.

Es scheint, dass Geschlecht und Alter der Patientinnen die Ärzt:innen in Bezug auf eine Diagnose, die eine Alternative zu einer psychischen Erkrankung darstellte, in die Irre führten. Dr. Höfer erklärt: "Wenn ich als Arzt nichts Körperliches finde, dann liegt die Vermutung nahe, es könnte vielleicht etwas Psychisches sein." Jedoch betont er auch, dass hier immer weitere Abklärung das Ziel sein sollte und nicht Abfertigung.

Auswirkungen von Medical Gaslighting

Medical Gaslighting kann das Vertrauensverhältnis zwischen Patient:innen und Ärzt:innen stark beeinträchtigen.

  • Vertrauensverlust: Medical Gaslighting untergräbt das Vertrauen von Patient:innen, indem es ihnen das Gefühl gibt, nicht ernst genommen oder missverstanden zu werden. Ein solcher Vertrauensverlust kann dazu führen, dass Patient:innen skeptisch gegenüber medizinischen Empfehlungen werden oder zögern, in Zukunft medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
  • Kommunikationsbarrieren: Wenn Patient:innen einmal die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Anliegen nicht angemessen adressiert werden, können sie zukünftig zögern, vollständige oder präzise Informationen über ihre Symptome oder Bedenken zu teilen. Dies kann die diagnostische Genauigkeit beeinträchtigen und die Qualität der medizinischen Versorgung verringern.
  • Verzögerung: Medical Gaslighting kann dazu führen, dass ernsthafte Gesundheitsprobleme nicht rechtzeitig erkannt oder behandelt werden. Patient:innen, die sich nicht ernst genommen fühlen, suchen möglicherweise erst spät oder gar nicht nach medizinischer Hilfe. Das kann zu einer Verschlechterung ihres Zustandes führen.
  • Psychologische Auswirkung: Die Erfahrung, im medizinischen Kontext ignoriert oder heruntergespielt zu werden, kann zu Stress, Angst und Depressionen führen. Das kann das allgemeine Wohlbefinden der Betroffenen weiter beeinträchtigen und ihre gesundheitliche Genesung behindern.
  • Suche nach alternativen Heilmethoden: Einige Patient:innen fühlen sich vom medizinischen Establishment im Stich gelassen und wenden sich daher alternativen Heilmethoden zu. Diese sind möglicherweise nicht wissenschaftlich fundiert und können ineffektive Behandlungen sowie potenziell schädliche Folgen mit sich bringen.

Medical Gaslighting in Österreich

In Österreich und anderen europäischen Ländern erfahren Migrant:innen im medizinischen Umfeld häufiger Diskriminierung. Eine Studie, die Migrantinnen in 10 EU-Ländern untersuchte, darunter auch Österreich, ergab, dass Migrant:innen aus Syrien, Afghanistan, Irak, Nigeria und Iran im Vergleich zu Einheimischen eine schlechtere Behandlung im Gesundheitswesen erfahren.

Außerdem hatten weibliche Migranten im Vergleich zu männlichen Migranten eine höhere Wahrscheinlichkeit, die benötigte Gesundheitsversorgung nicht zu erhalten.

Auch interessant: Bevor Medikamente an Menschen getestet werden, finden immer Tierversuche statt. Diese werden mit männlichen Mäusen durchgeführt, da die Zyklen der weiblichen Mäuse die Testergebnisse verfälschen könnten. Das wirft die Frage auf, ob der weibliche Zyklus in Menschen dabei einfach ignoriert wird.

Der Begriff Medical Gaslighting ist zwar neu, aber das Problem ist in der Medizin kein Neues: Ein überholtes Verständnis von Gesundheit.

Die medizinische Diskriminierung von Migrant:innen und Frauen beleuchtet systemische Mängel in der Gesundheitsversorgung. Die Vernachlässigung weiblicher Perspektiven in der Forschung und die unzureichende Versorgung von Migrant:innen offenbaren eine veraltete Vorstellung von Gesundheit, welche eine inklusivere medizinische Praxis erfordert, um Gerechtigkeit für alle zu gewährleisten.

Dies spiegelt sich auch in der Forschungspraxis wider, bei der vorwiegend männliche Mäuse für Tierversuche verwendet werden, um die Komplexität weiblicher Körper zu umgehen.

Im Lehrbereich wird versucht, mit der Gendermedizin oder Diversitätsmedizin die Realität widerzuspiegeln. Der Gesundheitsforscher erzählt, dass es eben Unterschiede gibt und dass diese Unterschiede wissenschaftlich gewürdigt werden sollen. Mithilfe neuer Ansätze würde man in der Medizin versuchen, die Horizonte zu erweitern und auch mehr Raum für Symptome und Beschwerden lassen, die nicht vorrangig weiße Männer betreffen.

Was kann ich als Betroffene:r tun?

Wenn du glaubst, von Medical Gaslighting betroffen zu sein, kannst du folgende Schritte unternehmen:

  1. Zweite Meinung einholen: Suche eine:n anderen Arzt/Ärztin auf, um deine gesundheitlichen Bedenken erneut zu bewerten.
  2. Dokumentation führen: Halte deine Symptome und medizinischen Konsultationen schriftlich fest, um bei zukünftigen Besuchen eine genaue Grundlage zu haben.
  3. Kommunikation verbessern: Bereite dich auf Arztbesuche vor, indem du eine Liste deiner Symptome und Fragen erstellst. Dies hilft, deine Anliegen klar und präzise zu kommunizieren.
  4. Patientenvertretung nutzen: Wende dich an Patient:innenvertretungen oder Patientenanwält*innen, die Unterstützung und Beratung bieten können.
  5. Beschwerde einreichen: Wenn du dich ungerecht behandelt fühlst, kannst du eine formelle Beschwerde bei der zuständigen Gesundheitseinrichtung oder der Ärztekammer einreichen.

Diese Schritte können dir helfen, eine angemessene Behandlung zu erhalten und sicherzustellen, dass deine gesundheitlichen Anliegen ernst genommen werden.

Medical Gaslighting ist ein Symptom von viel tiefer greifenden Problemen der Gesellschaft. Internalisierter Rassismus und patriarchale Denkmuster lassen keinen Platz für Menschen oder Erfahrungen abseits der medizinischen Norm eines weißen Mannes – darum versucht jetzt auch die moderne Medizin, damit zu brechen.

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