Finnische Außenministerin: Neutralität ist "gefährlich"
"Ich finde, in dieser Zeit, in der wir leben, ist ein solcher Gedanke gefährlich", sagte Valtonen in einem Interview mit der APA und weiteren Medien in Wien. Die von Russland ausgehende Bedrohung sei nämlich "nicht nur abstrakt und betrifft nicht nur benachbarte Länder", betonte sie. Es sei "geschichtslos zu denken, dass es einen nicht betreffen würde".
Finnland war im Vorjahr dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis NATO beigetreten und hatte damit einen Schlussstrich unter Jahrzehnte der Neutralität und Bündnisfreiheit gezogen. Die konservative Politikerin unterstrich, dass sie sich mit ihren Aussagen nicht in die österreichische Diskussion einmischen möchte. Sie räumte ein, dass ein militärischer Angriff Russlands auf Finnland nicht zu erwarten sei, weil das skandinavische Land eine der größten Armeen Europas habe. Laut Valtonen ist die Solidaritätsklausel im EU-Vertrag von Lissabon "noch eindeutiger" als die Beistandsverpflichtung im NATO-Vertrag. Finnland habe sich daher seit dem EU-Beitritt (gemeinsam mit Österreich im Jahr 1995) nicht mehr als neutral angesehen, fügte sie im Gespräch mit APA, dpa, AFP und der Tageszeitung "Der Standard" hinzu.
"Wir sitzen alle im gleichen Boot", sagte Valtonen. Österreich und Finnland hätten auch dasselbe Menschenrechtsverständnis, und die Verteidigung der Menschenrechte sei "nicht eine abstrakte Frage". "Es geht um die Freiheit, um die Zukunft Europas", sagte die in Deutschland aufgewachsene Politikerin mit Blick auf Russland und seine vielfältigen feindlichen Aktivitäten in Europa. Konkret nannte sie etwa Cyberangriffe, Angriffe auf die kritische Infrastruktur, Sabotageakte oder auch die Instrumentalisierung von Migranten.
Valtonen betonte zugleich, "dass es keinen haltbaren europäischen Frieden ohne Russland geben kann". Finnland engagiert sich deshalb weiterhin stark innerhalb der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Russland angehört, und wird kommendes Jahr auch den OSZE-Vorsitz übernehmen. Der NATO-Beitritt habe diesbezüglich nichts verändert, unterstrich die am Donnerstag zur Präsentation der finnischen OSZE-Prioritäten nach Wien gekommene Chefdiplomatin. Finnland stehe "genau wie vorher" zu den Grundprinzipien der OSZE. "Es liegt in unserem Interesse, die Organisation für die Zukunft aufrechtzuerhalten."
Valtonen äußerte die Hoffnung, dass das aktuelle Führungsvakuum an der OSZE-Spitze noch unter der aktuellen maltesischen Präsidentschaft beendet werden kann. Seit Anfang September hat die OSZE keine Generalsekretärin, keinen Minderheitenkommissar und keine Medienbeauftragte. Auch die Spitze des für Wahlbeobachtungen zuständigen Büros für Demokratie und Menschenrechte (ODIHR) ist unbesetzt. Schon seit drei Jahren hat die in Wien ansässige Organisation auch kein reguläres Budget mehr. Die Budgetverhandlungen übernimmt Finnland bereits Anfang Oktober, so Valtonen. Geplant sei die Schaffung eines "Helsinki 50"-Fonds für freiwillige Zuwendungen, der etwa für die Organisation von Konferenzen eingesetzt werden soll.
Die OSZE geht auf die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zurück, die am 1. August 1975 in der finnischen Hauptstadt Helsinki von allen damaligen europäischen Staaten unterzeichnet wurde und einen Meilenstein im "Tauwetter" zwischen West und Ost darstellte. Zum Jahrestag hätte sich Finnland einen Gipfel der Staats- und Regierungschefs gewünscht, doch dürfte es wegen des russischen Angriffskriegs wohl nicht dazu kommen, gab sich Valtonen realistisch. Stattdessen will Finnland eine Jubiläumskonferenz unter Einbindung der Zivilgesellschaft organisieren.
In der Streitfrage der Teilnahme russischer Spitzenpolitiker an OSZE-Treffen wollte sich Valtonen nicht festlegen. Während Österreich und Nordmazedonien (Vorsitzland 2023) sanktionierten Russen Einreisevisa für OSZE-Treffen erteilten, gab es von Polen (Vorsitzland 2022) und Rumänien (OSZE-Parlamentarierversammlung 2024) rote Karten. Von Finnland gebe es "keine Beschlüsse" in dieser Frage, und ein Einreiseverbot sei "ein mögliches Szenario". Allerdings hänge das alles auch vom Verhalten Russlands ab. "Russland könnte den Krieg morgen beenden."
(Von Stefan Vospernik/APA)
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