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Wahre Verbrechen: Ist die True-Crime-Community toxisch?

True Crime findet im Internet immer mehr AnhängerInnen. Doch wann wird die Faszination für wahre Kriminalfälle problematisch?
Selma Tahirovic Selma Tahirovic

TRIGGERWARNUNG: In diesem Beitrag werden Themen wie Gewalt, Suizid und Mord behandelt. 

Wir sehen es auf Social Media, hören es in Podcasts oder verfolgen Videos auf YouTube dazu: Content über Mord- und Vermisstenfälle, verrückte Sekten oder SerienkillerInnen sind auf vielen Plattformen der absolute Renner.

So gibt es etwa einen eigenen Subreddit, auf dem NutzerInnen Informationen zu aktuellen Mord- und Vermisstenfällen posten oder die Einstellung sowie Mordweise von bestimmten StraftäterInnen diskutieren. Immer mehr Menschen steigen auf den Hype-Train der True-Crime-Community auf. 

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Darf True Crime als Unterhaltung dienen?

Bestimmt gibt es einige von uns, die schon mal beim Putzen oder Kochen nebenbei einen Podcast über einen Mordfall gehört haben. Während das einerseits sehr informativ sein kann, ist es andererseits auch ziemlich makaber.

Die Tatsache, dass wir uns anhören, wie beispielsweise der Mörder Ted Bundy unzählige Frauen getötet hat, während wir Pasta kochen, ist zugegeben grenzwertig. Ich persönlich denke jedoch, dass es für den Großteil der True-Crime-Fans nicht um die Brutalität der Fälle, sondern um den geschichtlichen Aspekt und das Mindset, das Menschen zu solch grausamen Taten bewegen kann, geht.

Besonders ungelöste Kriminalfälle, die auch Jahrzehnte später nicht aufgelöst werden können, sind für einige Menschen unglaublich spannend. Man fiebert mit, überlegt sich eigene Theorien und versucht, die Lösung zu finden.

Doch wie weit darf die Faszination für True Crime wirklich gehen? Die Tatsache, dass manche Menschen bestimmte Fälle "interessanter als andere" finden oder eine/n "LieblingsmörderIn" haben, lässt mich stutzig werden.

Ist die True-Crime-Community vielleicht toxischer als ich dachte? 

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Down the rabbit hole: Merchandise und Tattoos von SerienkillerInnen?

Oft genug stolpert man in Online-Foren zu True Crime über Fragen wie "Was ist dein Lieblingsfall" oder "Wer ist dein/e "LieblingskillerIn?". Dass diese Aussagen unglaublich irrsinnig klingen, ist für viele Ausstehende klar. Für Hardcore-Fans der True-Crime-Community sind solche Fragen wie es scheint nichts Verwerfliches. Sich für wahre Verbrechen zu interessieren, ist an und für sich nicht schlimm, doch diese zu verherrlichen, ist besonders gegenüber den Opfern eine Unverschämtheit. 

Genau hier steigen wir beim ersten Problem der True-Crime-Community ein: In vielen Fällen werden die Namen der TäterInnen auf ein Podest gestellt, glorifiziert und romantisiert. Dass diese Personen jedoch für unaussprechliche Verbrechen verantwortlich sind oder unzähligen Menschen wehgetan haben, wird oft zur Seite geschoben. 

So "überzeugen" die MörderInnen manche Fans mit ihrer "dramatischen Kindheitsgeschichte" oder ihrem attraktiven Aussehen (vor allem im Falle von Ted Bundy dürfte dieser Umstand bekannt sein). Dieser Hype um StraftäterInnen geht so weit, dass auf einigen Social-Media-Seiten sogar Merchandise angeboten wird, das mit echten Mordfällen zu tun hat.

YouTuberin Sarah Hawkinson deckte in einem Video auf, dass einige Webseiten Kleidung verkaufen, auf denen entweder SerienkillerInnen oder sogar Mordopfer zu sehen sind. 

So tauchen beispielsweise T-Shirts mit der Leiche der 1947 ermordeten Elizabeth Short auf, die als "Black Dahlia" bekannt wurde. Wie die offizielle Website des US-amerikanischen FBI berichtet, wurde die 22-Jährige wurde brutal ermordet und ihr Leichnam zerstückelt.

Alte Fotografien der ermordeten Frau können im Internet gefunden werden – dies lädt einige AnbieterInnen dazu ein, Merchandise mit dem abgebildeten Körper von Short anzubieten. Dass dies unglaublich pietätlos ist, interessiert nur wenige. Denn der True-Crime-Hype ist lukrativ – dabei wird vor allem auf dem Rücken der Mordopfer profitiert.

Neben den Merchandise-Artikeln können auch Tattoos problematisch sein. Wie Hawkings in einem weiteren Video aufzeigt, lassen sich einige Personen Fotos von SerienkillerInnen tätowieren. Auch Zitate von MöderInnen sind ein häufiges Motiv. Auf Social Media teilen die UserInnen "stolz" ihre Tätowierungen – wie taktlos das ist, realisiert nur ein Bruchteil der Community. 

Diese Verherrlichung des "personifizierten Bösen" ist mehr als problematisch. Stell dir vor, dein Familienmitglied wurde getötet – und plötzlich trägt eine wildfremde Person das Gesicht des/der TäterIn auf ihrer Haut, weil es "cool" und "edgy" wirkt.

Wie Shows zu Retraumatisierung beitragen

Wie retraumatisierend so ein Verhalten für überlebende Opfer oder deren Familienmitglieder sein kann, zeigt auch ein Tweet, der im Zuge der Veröffentlichung der Netflix-Serie "Monster: The Jeffrey Dahmer Story" veröffentlicht wurde. Die Doku-Show behandelt den Fall des Serienkillers, der 17 Männer getötet hat. Errol Lindsey war eines seiner Opfer, das 1991 durch Dahmer ermordet wurde. Lindeys Schwester Isbell sagte im Gerichtsprozess gegen den Mörder aus und erlitt einen Nervenzusammenbruch. Diese Szene wurde auch in der Netflix-Serie gezeigt. 

Isbells' Cousin Eric Thulhu twitterte über die gezeigte Szene und postete auch die Originalaufnahme aus dem Gerichtssaal. Er betonte, dass die Verfilmung retraumatsierend für die Opfer und Angehörigen sein kann. "Ich will niemandem vorschreiben, was er/sie sich anschauen soll, ich weiß, dass True-Crime-Medien im Moment sehr beliebt sind, aber wenn ihr tatsächlich neugierig auf die Opfer seid, ist meine Familie (die Isbells) stinksauer auf diese Sendung. Sie retraumatisiert immer wieder, und wofür? Wie viele Filme/Shows/Dokumentationen brauchen wir noch?", twitterte der User. 

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Pro und Contra: Internet-DetektivInnen im Einsatz

Besonders bei ungelösten Fällen können Berichterstattungen darüber und der Zusammenhalt der Community hilfreich sein. Auch das Internet kann in der heutigen Zeit bei ungelösten Fällen als praktisches Werkzeug dienen. So erwies sich im Fall des ermordeten Jason Callahan Social Media als der Schlüssel zur Lösung.

Wie "Guardian" berichtet, starb Callahan 1995 bei einem Autounfall. Seine Verletzungen waren so schwer, dass der Leichnam nicht identifiziert werden konnte. Aufgrund von zwei Konzerttickets der Band Grateful Dead, die bei der Leiche gefunden wurden, wurde Callahan als "Grateful Doe" bekannt.

Wie "arte" berichtet, werden nicht identifizierbare Leichen häufig mit dem Pseudonym John oder Jane Doe benannt. Im Falle von Callahan wurde ein Wortspiel daraus gemacht, dass 20 Jahre später endlich durch seinen echten Namen ersetzt werden konnte.

Unzählige UserInnen "arbeiteten" an dem Fall des verunglückten Mannes und rekonstruierten sein Gesicht mit speziellen Programmen. Dadurch konnte seine Familie Jahre später herausfinden, dass ihr Familienmitglied nicht einfach verschwunden ist, sondern tatsächlich bei einem schrecklichen Unfall ums Leben kam. 

Dies ist definitiv eines von vielen positiven Beispielen, die zeigen, wie viel man bewegen kann, wenn mehrere Menschen alles daran setzen, zu helfen.

Doch manche Personen sind von wahren Verbrechen derartig "besessen", dass sie selbst versuchen – meist von ihrem bequemen Zuhause aus – Mord- oder Vermisstenfälle zu lösen. Das Internet ist voll von Verschwörungstheorien und lädt auf den verschiedensten Plattformen dazu ein, seine Meinung hinauszuposaunen.

Das ist nicht immer eine gute Idee – abgesehen davon, dass die Familien der vermissten oder ermordeten Personen das meiste auf Social Media mitlesen, können wilde Spekulationen und regelrechte Hasskampagnen gegen bestimmte Personen gefährlich werden. 

Das zeigt unter anderem auch der Fall der verstorbenen Elisa Lam. Die Kanadierin checkte 2013 in das Cecil Hotel in Los Angeles ein. Einige Tage nach ihrem Aufenthalt wurde sie tot im Wassertank des Hotels aufgefunden. Die Todesumstände bleiben bis heute ein Rätsel. Online löste ihr Ableben eine Welle der Neugier und Solidarität aus, unzählige UserInnen wollten den Fall der verstorbenen 22-Jährigen auflösen.

Dabei gingen sie so weit, dass sie sogar den Musiker Pablo Vergara online an den Pranger stellten. Wie "Loudwire" berichtet, waren sich NutzerInnen auf Social Media sicher, dass Vergara die Kanadierin getötet habe, da seine Songtexte laut den UserInnen auf den Fall von Lam hinwiesen und er einst ebenfalls in dem Hotel wohnte.

Dass der Sänger jedoch ein Jahr vor Lams Tod im Hotel wohnte und er zum Todeszeitpunkt nicht mal in den USA war, war den UserInnen egal. Sie waren sich sicher, dass sie den potenziellen Täter und die Lösung des Falls gefunden hatten.

Der Hass, der sich online gegen Vergara formte, ließ ihn in ein tiefes Loch fallen, sodass er sogar versuchte, sich umzubringen. Obwohl die Unschuld des Musikers im Falle der verstorbenen Elisa Lam bestätigt wurde, bekommt er bis heute Morddrohungen auf Social Media. 

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Darf man sich überhaupt noch für True Crime interessieren? 

Abgesehen von den aufgezählten negativen Aspekten der True-Crime-Community ist es definitiv positiv, dass besonders über ungelöste Vermissten- oder Mordfälle berichtet wird. In Zeiten der sozialen Medien kann so den Familien der Betroffenen geholfen und vor allem dafür gesorgt werden, dass die Opfer nicht in Vergessenheit geraten.

YouTuberin Kendall Rae veröffentlicht regelmäßig Videos zu ungelösten Fällen, spricht mit den Familien der Betroffenen und arbeitet mit Charity-Organisationen zusammen. Auch der deutsche YouTuber Insolito spricht häufig über Fälle, die von Mainstream-Medien nicht mehr abgedeckt werden.

Sich für wahre Verbrechen zu interessieren, kann toxisch sein – muss es aber nicht. Es hängt immer davon ab, wie man mit den Kriminalfällen umgeht. Wer also wirklich "helfen" möchte, sollte vor allem einsehen, dass True Crime keine Unterhaltungsform ist, sondern die tragischen Erlebnisse echter Menschen erzählt. 

Hinterfrage demnach jeden Beitrag, den du über Vermissten- oder Mordfälle siehst, lass dich nicht von Verschwörungstheorien mitreißen und stelle dir immer wieder die Frage: "Würde ich das Verhalten dieser Community gutheißen, wenn ich von dem Fall persönlich betroffen wäre?"

Wer Selbstmordgedanken hat oder an Depressionen leidet, sollte sich an vertraute Menschen wenden. Oft hilft bereits ein einzelnes Gespräch. Wer für weitere Hilfsangebote offen ist, kann sich rund um die Uhr kostenlos unter der Rufnummer 142 an die Telefonseelsorge wenden. Sie bietet schnelle erste Hilfe an und vermittelt ÄrztInnen, Beratungsstellen oder Kliniken.