Van der Bellen warnt vor Deal mit Russland
Das Vertrauen in die Paktfähigkeit des Regimes sei massiv gestört "und die Wahrheit ist auch: Wir haben uns selbst in diese gefährliche Abhängigkeit und Erpressbarkeit hineinmanövriert". Aus dieser müsse man heraus. Jeder könne etwas beitragen, wir alle "müssen in die Gänge kommen".
"Warum sollen wir im Winter frieren wegen eines Krieges, der uns nichts angeht?", würden sich viele fragen, so Van der Bellen. Aber "der Krieg geht uns etwas an, weil es auch ein Angriff auf unsere Lebensweise ist, auf unsere Demokratie, unsere Identität und unsere Zukunft". Jeder Kubikmeter Gas werde von Russland genutzt, um Europa zu spalten. Die Sanktionen, die Europa geeint erlassen habe, würden wirken. Österreich sei als neutraler Staat "jederzeit bereit, seine diplomatischen guten Dienste für Verhandlungen zur Verfügung zu stellen", betonte er, aber "leider habe ich den Eindruck, dass derzeit kein Interesse an echten Verhandlungen besteht".
"All jene, die denken, dass wir uns mit Russland jetzt auf einen Deal einlassen sollten, dass wir die brutalen Angriffe ignorieren können, dass wir die Sanktionen aufheben sollen und dass wir in erster Linie auf uns selbst schauen sollen, die frage ich: Und wie lange wird der Deal mir Russland halten? Einen Winter? Wirklich so lang? Was dann?". Vielmehr gelte es, aus der selbst verschuldeten Abhängigkeit herauszukommen. Das heiße u.a. in erneuerbare Energie zu investieren und Energie einzusparen.
"Das ist alles nicht einfach, das erfordert harte Arbeit." Unabhängigkeit, Freiheit und Frieden seien keine Selbstverständlichkeit, man müsse sie verteidigen "und es liegt an uns allen, einen Beitrag zu leisten", forderte er. Jeder möge sich fragen: "Was ist es mir wert heute aufzugeben, damit meine Kinder und deren Kinder eine unabhängige, freie und friedliche Zukunft vor sich haben". Wenn man in "guter österreichischer Tradition" zusammenhelfe und aufeinander schaue, sei er "trotz allem voller Zuversicht, dass wir das auch schaffen", sagte Van der Bellen.
Auch die Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures (SPÖ) forderte Zusammenhalt und gerechten Ausgleich in der Gesellschaft. Es brauche nun "keine leeren Ankündigungen und keine Propaganda". Man benötige "weniger Ich, mehr Ihr, weniger Egoismus, mehr Empathie". In Anlehnung an das Thema des diesjährigen Brucknerfests "Visionen", sagte sie, Visionärinnen und Visionäre hätten es "noch nie leicht gehabt". Oft seien sie verspottet worden, erinnerte sie etwa an Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner. Für den Frieden einzutreten, bedeute aber nicht, sich der Gewalt zu unterwerfen, sondern ihr die Stirn zu bieten. "Krieg ist immer ein Verbrechen und ihn zu überwinden, bleibt das wichtigste Ziel zivilisatorischen Fortschritts", so Bures.
Der oberösterreichische Landeshauptmann Thomas Stelzer (ÖVP), der zuletzt wiederholt die Russland-Sanktionen in Frage gestellt hatte, sagte, Menschen würden sich Sorgen machen, wie sie sich das bisher Selbstverständliche leisten könnten. Die Politik sei gefordert und der Staat werde "noch mehr tun müssen", um Wohlstand und soziale Ausgewogenheit zu erhalten. Europa müsse eine gemeinsame Antwort geben, "unser Ziel muss sein, dass möglichst rasch die Waffen schweigen". Dazu gehöre auch, miteinander zu reden, aber auch unterschiedliche Standpunkte auszuhalten. "Zukunftsfragen verlangen geradezu nach Kontroverse", so Stelzer.
Die traditionelle Festrede hielt der Schweizer Soziologe Jean Ziegler. Der 88-jährige ehemalige UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung ist einer der führenden Globalisierungskritiker weltweit. Er nahm das Publikum in die Pflicht, etwas gegen den Hunger in der Welt zu unternehmen, der sich durch den Ukrainekrieg noch massiv verstärken werde. Ziegler zitierte Zahlen der UNO, wonach 2021 alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren am Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen gestorben ist und weltweit 874 Millionen Menschen permanent schwer unterernährt sind. Das Recht auf Nahrung sei sicher das am häufigsten und brutalsten verletzte auf diesem Planeten, folgerte er, "der Hunger ist ein organisiertes Verbrechen". Ein Kind, das heute verhungere, "wird ermordet". Denn einen "objektiven Mangel" gebe es dank technischer und wissenschaftlicher Errungenschaften längst nicht mehr. Hunger sei vielmehr "menschengemacht und kann morgen von Menschen aus der Welt geschafft werden".
Das Klassikfestival, das bis 11. Oktober dauert, steht heuer unter dem Titel "Visionen - Bruckner und die Moderne" und widmet sich unter anderem dem Einfluss des Komponisten auf die Nachwelt. Bereits seit 4. September, dem 198. Geburtstag des Namenspatrons, gibt es Veranstaltungen, das große Eröffnungskonzert findet aber erst am Sonntag statt. Den Abend bestreiten das Linzer Bruckner Orchester unter Markus Poschner und die lettische Violinistin Baiba Skride.
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